Gebietserhaltungsanspruch / Gebot der Rücksichtnahme
OVG Bautzen, B. vom 08.02.2024 -1 B 242/23
Die Antragsgegnerin, die Stadt Dresden (S), erteilt sich selbst für ein ihr gehörendes Grundstück –bisher eine Grünfläche- eine Baugenehmigung zur „Errichtung mobiler Raumeinheiten zur Unterbringung von Asylbewerbern, Errichtung von Fahrradabstellplätzen und einer Einfriedung – befristet für fünf Jahre, Antrag auf Abweichung von den Vorschriften der SächsBO“. Die geplante Anlage umfasst 48 Plätze für Asylbewerber. Die Freifläche wird südlich durch eine Hauptstraße des betreffenden Stadtteiles begrenzt. Auf der anderen Straßenseite befindet sich ein im Eigentum der Antragstellerin E stehender Hotel-, Gaststätten- und Spabetrieb, dessen Betreiberin B weitere Antragstellerin ist. Die Antragstellerinnen begehren die Anordnung der aufschiebenden Wirkung ihres Widerspruchs gegen die (aufgrund § 212a I BauGB kraft Gesetzes sofort vollziehbare) Baugenehmigung (§§ 80a I1 Nr. 2, III, 80 V VwGO).
Gegen den zurückweisenden Beschluss des VG Dresden hat nur noch die E Beschwerde erhoben, die keinen Erfolg hatte.
Der Antrag der B sei unzulässig (offenbar, weil ihr als nur obligatorisch und nicht dinglich berechtigter Pächterin von vornherein aufgrund der Grundstücksbezogenheit des Baurechts kein subjektives öffentliches Recht zustehen kann). Auch die E könne bei summarischer Prüfung keine Verletzung nachbarschützender Rechte geltend machen.
Soweit die E der Auffassung sei, bei einer Identität von Bauherr und Genehmigungsbehörde müsse über die Verletzung in eigenen nachbarschützenden Rechten hinaus auch die objektive Rechtmäßigkeit der Baugenehmigung geprüft werden, sei dies verfehlt. E könne sich dazu nicht auf Art. 19 IV GG berufen, weil diese Norm zu schützende Rechte voraussetze und nicht selbst begründe.
Die Zuständigkeit der S als untere Bauaufsichtsbehörde ergebe sich aus § 57 I 2, 1 Nr. 1 SächsBO, so dass dahingestellt bleiben könne, ob § 57 SächsBO Drittschutz vermitteln könne.
§ 20 VwVfG (Ausgeschlossene Personen) regele nur einen persönlich-individuellen Anwendungsbereich, nicht hingegen die sog. institutionelle Befangenheit. Die Entscheidung einer Behörde im Rahmen ihrer gesetzlichen Zuständigkeit sei auch in eigenen Angelegenheiten nicht zu beanstanden.
Das Beteiligungsrecht als Nachbarin aus § 70 SächsBO sei nicht verletzt, weil Nachbarn nur vor Erteilung von Abweichungen und Befreiungen angehört werden müssten, wenn zu erwarten sei, dass öffentlich-rechtlich geschützte nachbarliche Belange berührt werden. Abweichungen seien hier nur von den nicht nachbarschützenden Vorschriften nach § 50 SächsBO (Barrierefreiheit) und von § 7 Abs. 3 und 4 Sächsische Stellplatz-, Garagen- und Fahrradabstellsatzung (Eingrünung von Stellplätzen) erteilt worden.
Die Baugenehmigung leider auch nicht an einem Begründungsdefizit. § 72 II 2 SächsBO sei dabei die spezieller Vorschrift zu § 39 VwVfG. Danach sei die Baugenehmigung nur insoweit zu begründen, als Abweichungen oder Befreiungen von nachbarschützenden Vorschriften zugelassen werden und der Nachbar nicht nach § 70 II SächsBO zugestimmt habe. Die Begründungspflicht entfalle damit, soweit die Bauaufsichtsbehörde einem Antrag entspreche oder einer Erklärung folge und die Genehmigung nicht in Rechte eines anderen eingreife und demjenigen, für den der Verwaltungsakt bestimmt sei oder der von ihm betroffen werde, die Auffassung der Behörde über die Sach- und Rechtslage bereits kenne oder auch ohne Begründung für ihn ohne weiteres erkennbar sei.
In materieller Hinsicht scheide eine Verletzung des Gebietserhaltungsanspruchs aus, unabhängig davon, ob es sich um Außenbereich oder um unbeplanten Innenbereich handele und das Gebiet der näheren Umgebung als allgemeines Wohngebiet, Mischgebiet oder als Gemengelage einzustufen sei. Auch in einem allgemeinen Wohngebiet seien Asylbewerberheime jedenfalls als Anlagen für soziale Zwecke nach § 4 II Nr. 3 BauNVO anzusehen.
Auch ein Verstoß des in §15 I 2 BauNVO enthaltenen Gebots der Rücksichtnahme vor unzumutbaren Belästigungen und Störungen liege (bei unterstelltem faktischen allgemeinen Wohngebiet) nicht vor.
Die Zusammensetzung der Bewohner oder Nutzer einer Unterkunft nach ihrer Herkunft, Abstammung und ihrem Familienstand sei kein städtebaulich relevantes Kriterium. Bach der Zahl der unterzubringenden 48 Asylbewerbern sei das Vorhaben nicht generell geeignet, den Charakter eines allgemeinen Wohngebiets zu stören.
Soweit die E unzumutbare Belästigungen oder Störungen befürchte, die „typischerweise“ von einer Unterkunft für Flüchtlinge und Asylbewerber ausgingen und Hotelmitarbeiterinnen zur Kündigung veranlassen oder Gäste von einer Hotelbuchung abhalten könnten, sei bereits im Hinblick auf die Größe der Unterkunft, nicht ersichtlich, dass sich die abstrakte Gefahr von Straftaten durch den Betrieb der Unterkunft hinreichend konkretisiere. Auch gebe es keinen Anhalt dafür, dass von Flüchtlings- und Asylbewerberunterkünften typischerweise eine konkrete Gefahr für die Bewohner der näheren Umgebung aufgrund des von der E befürchteten straffälligen Verhaltens einzelner Asylbewerber angesichts von Presseberichten über eine statistische Überrepräsentation männlicher Flüchtlinge bei den Tatverdächtigen.
Nichts anderes gelte in Bezug auf in der näheren Umgebung arbeitende oder sich sonst temporär dort aufhaltenden Personen. Eine mehr als unspezifische Besorgnis eines „trading down“ bestehe nicht.
Das Vertrauen auf eine auch künftig unbeeinträchtigte Aussicht auf die gegenüberliegenden Grünflächen sei nachbarrechtlich nicht geschützt.