Beurteilungsspielraum

Beurteilungsspielraum

1. Herleitung: nach hM (RS BVerfG, BVerwG) gesetzlich eingeräumtes Letztentscheidungskompetenz, sog. normative Ermächtigung.

2. Erfordernis verfassungsrechtlicher Legitimation aus Art. 19 IV GG (BVerfGE 84, 34).

Kontrollfrage: Warum wäre es nicht bzw. kaum vertretbar, wenn die Gerichte voll überprüfen würden?

3. Fallgruppen der RS

siehe BVerwG DVBl 1991, 49 und B. v. 17.09.2015 -2 A 9/14- NVwZ 2016, 327

https://www.bverwg.de/de/170915B2A9.14.0

3.1 Wenn die Entscheidung maßgeblich von fachspezifischen, besondere Sachkunde oder Erfahrungen voraussetzenden Wertungen bestimmt wird (BVerwGE 131, 274 = NVwZ 2009, 302)

a ) beamtenrechtl. Beurteilungen (BVerwG, NVwZ – RR 1990, 489)

b) Prüfungsentscheidungen

c) Wertungsentscheidungen durch weisungsfreie Gremien sachverständiger oder pluralistisch zusammengesetzter Art

Ein Gremium, das aufgrund seiner fachspezifischen und pluralistischen Zusammensetzung gesetzlich vermuteten Sachverstand und gesellschaftliche Repräsentanz in sich vereint .

Bejaht bei reinen Sachverständigenkommissionen, die zudem pluralistisch besetzt sind für Weinprüfungskommissionen (SV aus Weinwirtschaft, Verwaltung, Verbraucher für die sensorische Prüfung) durch BVerwG U. v. 16.5.2007 -3 C 8/06- NJW 2007, 2790 (speziell hier auch Art. 19 IV GG kein Problem, weil sich auch das Gericht eines oder mehrerer Sachverständiger bedienen müsste).

So auch jahrzehntelang die Indizierungsentscheidungen. Aufgrund BVerfG (Beschluss vom 27.11.1990 – 1 BvR 402/87 – BVerfGE 83, 130 – Josefine Mutzenbacher -) ist allerdings auch bei Jugendgefährdung eine Abwägung mit der Kunstfreiheit nötig (auch Pornografie etc. kann Kunst sein). Seit BVerwG, Urteil vom 26. November 1992 – 7 C 20/92 – BVerwGE 91, 211) galt daraufhin, dass die wertende Einschätzung eines Werkes als Kunst sowie die Beurteilung des von ihm ausgehenden schädigenden Einflusses auf Jugendliche durch die Bundesprüfstelle nur noch den „Gehalt von sachverständigen Äußerungen“ hatte, (die die widerlegt werden müssen = zu behandeln wie Fachsachverständigengutachten). Die praktische Konkordanz zwischen Jugendschutz und Kunstfreiheit sollte allerdings noch mit Beurteilungsspielraum die Prüfstelle herstellen.

Auch letzteres ist aufgegeben durch BVerwG, U. vom 30.10.2019 -BVerwGE 6 C 18.18- NJW 2020, 785 (Bushido) für den Bereich des Jugendschutzes: Klage gegen Indizierung (Eintrag in die Liste der jugendgefährdenden Medien durch die Bundesprüfstelle des Bushido Albums „Sonny Black“. Klage dagegen hatte vor dem OVG noch Erfolg, weil ein aufgrund des bestehenden Beurteilungsspielraumes bestehendes Anhörungsdefizit nicht mehr geheilt werden könne. BVerwG: Kein tragfähiger Grund für eine Letztentscheidungsbefugnis: Die Abwägung zwischen Kunstfreiheit und Jugendschutz ist nicht mehr übermäßig schwierig (Rdnr. 19).

3.2 wenn die Entscheidung Ausdruck und Ergebnis einer komplexen Abwägung verschiedener Belange ist

vgl. etwa BVerwGE 130, 39 = NVwZ 2008, 575 Rdnr. 28 ff. [zum so genannten Regulierungsermessen nach dem TKG]),

planerisch gestaltende Entscheidungen ( Bsp. Planfeststellungsbeschluss ).

dazu gehört m. E. die „naturschutzfachliche Einschätzungsprärogative“, welche nach BVerwG jedenfalls derzeit für die Prüfung artenschutzrechtlicher Verbotstatbestände im Rahmen einer immissionsschutzrechtlichen Genehmigungsentscheidung ein behördlichen Beurteilungsspielraum darstellen soll (BVerwG. U. v. 21.11.2013 -7 C 40/11). NVwZ 2014, 524). Eine solche müsse es geben, weil die behördliche Beurteilung sich auf außerrechtliche Fragestellungen richte, für die weithin allgemein anerkannte fachwissenschaftliche Maßstäbe und standardisierte Erfassungsmethoden fehlten. Wenn und solange die ökologische Wissenschaft sich insoweit nicht als eindeutiger Erkenntnisgeber erweist, fehlt es den Gerichten an der auf besserer Erkenntnis beruhenden Befugnis, eine naturschutzfachliche Einschätzung der sachverständig beratenden Zulassungsbehörde als „falsch“ und „nicht rechtens“ zu beanstanden. Dies entspreche ständiger Rechtsprechung des BVerwG zum Planfeststellungsrecht. (die konkrete Verbotsnorm ist § 44 BNatschG [Tötungs- und Verletzungsverbot], welches

3.3 bei Verwaltungsentscheidungen, bei denen auch politische Vorgaben und Bewertungen von Bedeutung sind, etwa im Bereich der Außenpolitik (BVerwGE 62, 11 [15 f.] und BVerwG, B. vom 06.03.1997 – 3 B 178/96- Buchholz 11 Art. 32 GG Nr. 2, S. 1 [jeweils zur Gewährung von Auslandsschutz]),

Prognoseentscheidungen mit politischem Einschlag

Bsp. ministerielle Entscheidung, Tiefflüge zu Übungszwecken abzuhalten „soweit dies zur Erfüllung hoheitlicher Aufgaben zwingend notwendig ist so “ BVerwGE 97, 203

Bsp. „nachteilige Auswirkungen auf internationale Beziehungen“ im Sinne des § 3 Nr. 1 a IFG (als Ausnahme vom Informationsanspruch; vgl. zur Weigerung des Bundesverkehrsministeriums, Angaben zu Flugbewegungen –mutmaßlicher CIA-Flüge- zu geben (BVerwG U. v. 29.10.2009 -7 C 22/08 NVwZ 2010, 321 mit Besprechung JuS 2010, 843).

3.4 Wenn die Entscheidung eine prognostische Risikobewertung erfordert

(BVerwGE 72, 300 [316] = NVwZ 1986, 208 [zur Risikovorsorge im Atomrecht])

3.5 mögliche neue Fallgruppe: weil der EuGH sagt, spezifisches EU-Recht räume einen Beurteilungsspielraum ein

so jedenfalls BVerwG für den Visakodex (VO (EG) Nr. 810/2009 ) für „Zweifel an Rückkehrabsicht“ (Urt. v. 17.09-2015 -1 C 37/14 NVwZ 2016, 161).

BVerwG: EuGH differenziert nicht zwischen Ermessensausübung und B., hier aber sind Tatbestandsvoraussetzungen betroffen, deshalb echter Beurteilungsspielraum. Überprüfung: Danach wird die Ausübung eines Beurteilungsspielraums auf der Tatbestandsseite nur darauf überprüft, ob die Behörde die gültigen Verfahrensbestimmungen eingehalten hat, von einem richtigen Verständnis des anzuwendenden Gesetzesbegriffs ausgegangen ist, den erheblichen Sachverhalt vollständig und zutreffend ermittelt hat und sich bei der eigentlichen Beurteilung an allgemeingültige Bewertungsmaßstäbe gehalten, insbesondere das Willkürverbot nicht verletzt hat .

4. Überprüfungspunkte (vereinfachend und vereinheitlichend)

4.1 Einhaltung des Verfahrens bzw. keine Verfahrensfehler (z. B. BVerwGE 99, 74, 77 Prüfr., Legitimation durch Verfahren bei den Großverfahren/Stichwort Grundrechtsschutz durch Verfahren)

4.2 richtige Rechtsanwendung/Keine Verkennung des anzuwendenden Begriffes bzw. gesetzlichen Rahmens (Bsp. Art. 33 I; dazu Prüfungsrecht: bei der Korrektur vertretbares nicht als falsch anzusehen;

4.3 Zugrundlegung des richtigen Sachverhaltes

4.4 Beachtung der allgemeingültigen Wertmaßstäbe

4.5 keine sachfremden Erwägungen = Willkürverbot

weitere Beispiele:

Grundschulempfehlung

OVG Münster, Beschluss vom 24. 8. 2007 – 19 B 689/07 NVwZ-RR 2008, 208 zur Grundschulempfehlung (Empfehlung der Grundschule zu Gymnasiumseignung) (Empfehlung des Grundschule zu Gymnasiumseignung) als Beurteilungsspielraum mit umfangreichen Ausführungen, ob sich Eilantrag erledigt durch nachfolgenden Nichtzulassungsentscheidung des Schulamtes nach negativem Prognoseunterricht und zur Frage 123 oder 80V

Noch Beurteilungsspielraum bzw. Prognose und noch nicht Restrisiko:

BVerwG Urt. v. 22. 3. 2012 7 C 1/11 NVwZ 2012, 750 Klage gegen atomrechtliche Genehmigung zur Aufbewahrung von Kernbrennstoffen

Beurteilungsspielraum (und nicht nur Prognose für polizeiliche Gefahrenabwehr): Sicherheitsüberprüfung nach dem Sicherheitsüberprüfungsgesetz

BVerwG:Beschl. v. 17.9.2015 – 2 A 9/14, NVwZ 2016, 327, Bespr. JuS 2016, 860,

Fragen entziehen sich oft einer Beweiserhebung durch Sachverständige

Gesetz über die Voraussetzungen und das Verfahren von Sicherheitsüberprüfungen des Bundes (Sicherheitsüberprüfungsgesetz – SÜG)

§ 5 Sicherheitsrisiken, sicherheitserhebliche Erkenntnisse

(1) Im Sinne dieses Gesetzes liegt ein Sicherheitsrisiko vor, wenn tatsächliche Anhaltspunkte 1.

Zweifel an der Zuverlässigkeit des Betroffenen bei der Wahrnehmung einer sicherheitsempfindlichen Tätigkeit begründen oder

2.eine besondere Gefährdung durch Anbahnungs- und Werbungsversuche fremder Nachrichtendienste, insbesondere die Besorgnis der Erpreßbarkeit, begründen oder

3.Zweifel am Bekenntnis des Betroffenen zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung im Sinne des Grundgesetzes oder am jederzeitigen Eintreten für deren Erhaltung begründen.

Ein Sicherheitsrisiko kann auch auf Grund tatsächlicher Anhaltspunkte zur Person des Ehegatten, Lebenspartners oder Lebensgefährten vorliegen.

(2) Eine Erkenntnis ist sicherheitserheblich, wenn sich aus ihr ein Anhaltspunkt für ein Sicherheitsrisiko ergibt.

§ 14 Abschluß der Sicherheitsüberprüfung

(,,)

(3) Die zuständige Stelle entscheidet, ob ein Sicherheitsrisiko vorliegt, das der sicherheitsempfindlichen Tätigkeit des Betroffenen entgegensteht.Die Bewertung der übermittelten Erkenntnisse erfolgt auf Grund einer am Zweck der Sicherheitsüberprüfung orientierten Gesamtwürdigung des Einzelfalles, insbesondere im Hinblick auf die vorgesehene Tätigkeit. Im Zweifel hat das Sicherheitsinteresse Vorrang vor anderen Belangen. § 6 Abs. 1 und 2 ist zu beachten.

(4).

Kein Beurteilungsspielraum: gesundheitliche Eignung des Beamtenbewerbers

sondern voll überprüfbare Prognose (BVerwG, Urt. v. 25.07.2013 2 C 12/11 -NVwZ 2014, 300 in Aufgabe früherer RS)

Kein Beurteilungsspielraum: „ethische Vertretbarkeit“ von Tierversuchen,

§ 7a II Nr. 3 TierSchG (n. F. ab Juli 2013; § 7 III TierschG a. F.:

so BVerwG, B. v. 20.01.2014 -3 B 29/13- NVwZ 2014, 450. Die Frage können die Fachgerichte klären.

Ähnliche Materie:

BVerfG, Beschl. v. 31. 5. 2011 -1 BvR 857/07. Leitsatz 5, NVwZ 2011, 1062 mit Bespr. JuS 2012, 189)

Investionszulagengesetz verweist für Subventionseinzelheiten (nur bestimmte sollen gefördert werden, beispielsweise „verarbeitendes Gewerbe“) auf die „ Klassifikation der Wirtschaftszweige“ durch das Statistische Bundesamt.

Nach BVerfG ist so ein Verweis nur mit Art. 19 IV GG vereinbar als Verfahrensstufe in Form bindender Vorentscheidungen, die durch den Angriff gegen die Endentscheidung nicht mehr oder nur eingeschränkt einer gerichtlichen Überprüfung zugeführt werden kann, sofern – erstens – sich die Bindung einer Behörde an vorangehende Feststellungen oder Entscheidungen einer anderen Behörde hinreichend klar aus dem Gesetz ergibt, – zweitens – gegen die mit Bindungswirkung ausgestattete Teil- oder Vorentscheidung ihrerseits effektiver Rechtsschutz zur Verfügung steht und – drittens – die Aufspaltung des Rechtsschutzes mit einer etwaigen Anfechtungslast gegenüber der Vorentscheidung für den Bürger deutlich erkennbar und nicht mit unzumutbaren Risiken und Lasten verbunden ist .

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