Klassisches Baurecht: Asylbewerberunterkunft in allgemeinem Wohngebiet

Gebietserhaltungsanspruch / Gebot der Rücksichtnahme

OVG Bautzen, B. vom 08.02.2024 -1 B 242/23

Die Antragsgegnerin, die Stadt Dresden (S), erteilt sich selbst für ein ihr gehörendes Grundstück –bisher eine Grünfläche- eine Baugenehmigung zur „Errichtung mobiler Raumeinheiten zur Unterbringung von Asylbewerbern, Errichtung von Fahrradabstellplätzen und einer Einfriedung – befristet für fünf Jahre, Antrag auf Abweichung von den Vorschriften der SächsBO“. Die geplante Anlage umfasst 48 Plätze für Asylbewerber. Die Freifläche wird südlich durch eine Hauptstraße des betreffenden Stadtteiles begrenzt. Auf der anderen Straßenseite befindet sich ein im Eigentum der Antragstellerin E stehender Hotel-, Gaststätten- und Spabetrieb, dessen Betreiberin B weitere Antragstellerin ist. Die Antragstellerinnen begehren die Anordnung der aufschiebenden Wirkung ihres Widerspruchs gegen die (aufgrund § 212a I BauGB kraft Gesetzes sofort vollziehbare) Baugenehmigung (§§ 80a I1 Nr. 2, III, 80 V VwGO).

Gegen den zurückweisenden Beschluss des VG Dresden hat nur noch die E Beschwerde erhoben, die keinen Erfolg hatte.

Der Antrag der B sei unzulässig (offenbar, weil ihr als nur obligatorisch und nicht dinglich berechtigter Pächterin von vornherein aufgrund der Grundstücksbezogenheit des Baurechts kein subjektives öffentliches Recht zustehen kann). Auch die E könne bei summarischer Prüfung keine Verletzung nachbarschützender Rechte geltend machen.

Soweit die E der Auffassung sei, bei einer Identität von Bauherr und Genehmigungsbehörde müsse über die Verletzung in eigenen nachbarschützenden Rechten hinaus auch die objektive Rechtmäßigkeit der Baugenehmigung geprüft werden, sei dies verfehlt. E könne sich dazu nicht auf Art. 19 IV GG berufen, weil diese Norm zu schützende Rechte voraussetze und nicht selbst begründe.

Die Zuständigkeit der S als untere Bauaufsichtsbehörde ergebe sich aus § 57 I 2, 1 Nr. 1 SächsBO, so dass dahingestellt bleiben könne, ob § 57 SächsBO Drittschutz vermitteln könne.

§ 20 VwVfG (Ausgeschlossene Personen) regele nur einen persönlich-individuellen Anwendungsbereich, nicht hingegen die sog. institutionelle Befangenheit. Die Entscheidung einer Behörde im Rahmen ihrer gesetzlichen Zuständigkeit sei auch in eigenen Angelegenheiten nicht zu beanstanden.

Das Beteiligungsrecht als Nachbarin aus § 70 SächsBO sei nicht verletzt, weil Nachbarn nur vor Erteilung von Abweichungen und Befreiungen angehört werden müssten, wenn zu erwarten sei, dass öffentlich-rechtlich geschützte nachbarliche Belange berührt werden. Abweichungen seien hier nur von den nicht nachbarschützenden Vorschriften nach § 50 SächsBO (Barrierefreiheit) und von § 7 Abs. 3 und 4 Sächsische Stellplatz-, Garagen- und Fahrradabstellsatzung (Eingrünung von Stellplätzen) erteilt worden.

Die Baugenehmigung leider auch nicht an einem Begründungsdefizit. § 72 II 2 SächsBO sei dabei die spezieller Vorschrift zu § 39 VwVfG. Danach sei die Baugenehmigung nur insoweit zu begründen, als Abweichungen oder Befreiungen von nachbarschützenden Vorschriften zugelassen werden und der Nachbar nicht nach § 70 II SächsBO zugestimmt habe. Die Begründungspflicht entfalle damit, soweit die Bauaufsichtsbehörde einem Antrag entspreche oder einer Erklärung folge und die Genehmigung nicht in Rechte eines anderen eingreife und demjenigen, für den der Verwaltungsakt bestimmt sei oder der von ihm betroffen werde, die Auffassung der Behörde über die Sach- und Rechtslage bereits kenne oder auch ohne Begründung für ihn ohne weiteres erkennbar sei.

In materieller Hinsicht scheide eine Verletzung des Gebietserhaltungsanspruchs aus, unabhängig davon, ob es sich um Außenbereich oder um unbeplanten Innenbereich handele und das Gebiet der näheren Umgebung als allgemeines Wohngebiet, Mischgebiet oder als Gemengelage einzustufen sei. Auch in einem allgemeinen Wohngebiet seien Asylbewerberheime jedenfalls als Anlagen für soziale Zwecke nach § 4 II Nr. 3 BauNVO anzusehen.

Auch ein Verstoß des in §15 I 2 BauNVO enthaltenen Gebots der Rücksichtnahme vor unzumutbaren Belästigungen und Störungen liege (bei unterstelltem faktischen allgemeinen Wohngebiet) nicht vor.

Die Zusammensetzung der Bewohner oder Nutzer einer Unterkunft nach ihrer Herkunft, Abstammung und ihrem Familienstand sei kein städtebaulich relevantes Kriterium. Bach der Zahl der unterzubringenden 48 Asylbewerbern sei das Vorhaben nicht generell geeignet, den Charakter eines allgemeinen Wohngebiets zu stören.

Soweit die E unzumutbare Belästigungen oder Störungen befürchte, die „typischerweise“ von einer Unterkunft für Flüchtlinge und Asylbewerber ausgingen und Hotelmitarbeiterinnen zur Kündigung veranlassen oder Gäste von einer Hotelbuchung abhalten könnten, sei bereits im Hinblick auf die Größe der Unterkunft, nicht ersichtlich, dass sich die abstrakte Gefahr von Straftaten durch den Betrieb der Unterkunft hinreichend konkretisiere. Auch gebe es keinen Anhalt dafür, dass von Flüchtlings- und Asylbewerberunterkünften typischerweise eine konkrete Gefahr für die Bewohner der näheren Umgebung aufgrund des von der E befürchteten straffälligen Verhaltens einzelner Asylbewerber angesichts von Presseberichten über eine statistische Überrepräsentation männlicher Flüchtlinge bei den Tatverdächtigen.

Nichts anderes gelte in Bezug auf in der näheren Umgebung arbeitende oder sich sonst temporär dort aufhaltenden Personen. Eine mehr als unspezifische Besorgnis eines „trading down“ bestehe nicht.

Das Vertrauen auf eine auch künftig unbeeinträchtigte Aussicht auf die gegenüberliegenden Grünflächen sei nachbarrechtlich nicht geschützt.

Klassisches Polizeirecht: Gefahr für die Öffentliche Ordnung durch Hissen der Reichsflagge?

Ermessensausfall

OVG Münster, B. v. 01.03.2023 -5 B 167/23 NVwZ-RR 2023, 952

VG Arnsberg, B. v. 14.02.2023 – 6 L 159/23

Die Stadt Hilchenbach (S, Antragsgegnerin) erlässt am 07.02.23 eine Ordnungsverfügung samt Sofortvollzugsanordnung und Ersatzvornahme-Androhung, mit der dem Antragsteller (A), einem Vertreter der Partei „Dritter Weg“, die Entfernung der Reichsflagge von dem Gebäude aufgegeben wird, in dem sich ein Parteibüro befindet.

Das VG Arnsberg lehnte den § 80 V-VwGO-Antrag ab. Das OVG hob den Beschluss auf und gab statt:

Das VG hat das formelle Begründungserfordernis des § 80 III 1 VwGO für eingehalten erachtet.

In der Sache hat es die Erfolgschancen der Klage gegen die Verfügung als offen anzusehen. Rechtsgrundlage sei die polizeiliche Generalklausel in § 14 I OBG NRW („Die Ordnungsbehörden können die notwendigen Maßnahmen treffen, um eine im einzelnen Falle bestehende Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung [Gefahr] abzuwehren“). Eine Gefahr für die öffentliche Ordnung liege vor. Fraglich sei aber, ob die S das ihr eingeräumte Ermessen ausgeübt habe. Auch sei es nicht möglich, die Verhältnismäßigkeit zu überprüfen, insbesondere, inwieweit die durch die Verfügung geschützten Rechtsgüter einen Eingriff in die Meinungsfreiheit aus Art. 5 I GG rechtfertigten. Bei derzeit offenen Erfolgsaussichten der Klage gehe die erfolgsunabhängige Interessenabwägung zu Lasten des A aus, weil dieser nichts dafür vorgetragen habe, weshalb gerade das Zeigen der Reichsflagge zusätzlich zu den sonstigen ohnehin an dem Gebäude zur Schau gestellten Fahnen, Bannern und Plakaten gerade aktuell eine besondere Bedeutung und Dringlichkeit habe.

Das OVG hat es im Ergebnis offen gelassen, ob eine Gefahr für die öffentliche Ordnung vorliege, ob also die Gesamtheit jener ungeschriebenen Regeln für das Verhalten des Einzelnen in der Öffentlichkeit verletzt wird, deren Beachtung nach den jeweils herrschenden Anschauungen als unerlässliche Voraussetzung eines geordneten staatsbürgerlichen Gemeinschaftslebens betrachtet werde. Bei der Beurteilung konkreten Verhaltens könnten dabei Wertungen des Gesetzgebers aus einschlägigen Normen herangezogen werden. Das Zeigen der Reichsflagge reiche danach für sich genommen nicht. Nach der Rechtsprechung könne sich eine Gefahr jedoch aus dem Gesamtkontext der Verwendung der Flagge ergeben, wenn diese so verstanden werden kann, dass zu Einschüchterung, Diskriminierung und Gewalt gegenüber den in der Bundesrepublik Deutschland lebenden Ausländern aufgerufen werde. Die entsprechenden Umstände müssten wohl deutlicher hervortreten als beim Zeigen der Reichskriegsflagge, wo u. U. bereits von einer Verwirklichung einer Straftat nach § 130 I Nr. 1 StGB (und damit einem Verstoß gegen die öffentliche Sicherheit) ausgegangen werden könne.

Im Gegensatz zum VG geht das OVG von einem Ermessensfehler durch Ermessensnichtgebrauch auch. Denn der Ermessensspielraum sei nicht auf Null reduziert gewesen. Auch sei die S nicht einer tatsächlich zwingenden Vorgabe einer ermessenslenkenden Verwaltungsvorschrift gefolgt. Es fehlten vielmehr ermessenbegründende Ausführungen. Eine Ermessensausübung liege auch nicht – wie vom VG angenommen – in der Bezugnahme auf den einschlägigen Erlass des Innenministeriums. Dieser sehe in, dass die Ordnungsbehörden bei Vorliegen einer konkreten Gefahr für die öffentliche Ordnung „gehalten“ seien, „im Rahmen der Ausübung pflichtgemäßen Ermessens bezogen auf den jeweiligen Einzelfall das Zeigen oder Verwenden der Reichs(kriegs)flaggen in der Öffentlichkeit auf der Grundlage der hierfür einschlägigen gesetzlichen Regelungen zu unterbinden“. Trotz der missverständlichen Formulierung („gehalten“) solle eine Ermessensentscheidung im Einzelfall erfolgen. Dies führt das OVG näher aus. Eine strikte Bindung ohne Möglichkeit der Berücksichtigung der etwaigen Besonderheiten des Einzelfalls sei wohl u. a. auch im Hinblick auf Art. 5 Abs. 1 GG nicht rechtmäßig.

Angesprochen werden vom VG auch die fehlende Anhörung (jedenfalls geheilt) und der Einwand, die S hätte zivilrechtlich gegen die A vorgehen müssen, weil ein Miet- oder Nutzungsrechtsverhältnis zwischen den Parteien besteht. Die S wolle allerdings nicht mittels VA zivilrechtliche Ansprüche durchsetzen, sondern eine Gefahr nach § 14 I OBG NRW abwenden. Die Ersatzvornahmen-Androhung sei in Ordnung, insbesondere habe die S das richtige Zwangsmittel ausgewählt und hätte nicht ein Zwangsgeld androhen müssen, weil der A deutlich gemacht habe, die Flagge weiter zu hissen.

Kann eine Gemeinde gegen den ihren Ablehnungsbescheid aufhebenden Widerspruchsbescheid klagen?

Vorliegen einer Gefahr

VG Weimar, U. v. 03.05.2022 -7 K 1050/20 WE– NVwZ-RR 2022, 808:

Die später Beigeladenen B beantragten eine Fällgenehmigung für eine auf ihrem Grundstück in Erfurt wachsende Schwarznuss. Dies lehnte die Stadt Erfurt mit Bescheid vom 25.10.2018 ab, weil kein Fällgrund bestehe, also keiner der Ausnahmen nach § 6 ihrer Baumschutzsatzung (BaumSchG) vom Fällverbot des § 5 BaumSchG vorliege. Auf den Widerspruch eines der B hin hob der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 03.03.2020 die Ablehnung auf und verpflichtete die Stadt, die Fällgenehmigung zu erteilen, weil der Baum aufgrund einer nahen Gasleitung eine abstrakte Gefahr für Personen und Sachen von bedeutendem Wert sei. Die Klage der Stadt isoliert gegen den Widerspruchsbescheid hat Erfolg:

Sie sei als isolierte Anfechtungsklage i. S. d. § 79 Abs. 1 Nr. 2 VwGO statthaft. Die Aufhebung des Ausgangsbescheides und die Verpflichtung der Klägerin zur Erteilung der Fällgenehmigung stelle eine erstmalige Beschwer dar.

Grundsätzlich sei eine Kommune als Erstbehörde nicht klagebefugt, wenn die Widerspruchsbehörde diesen aufhebe, nämlich immer dann, wenn die Kommune eine staatliche Aufgabe wahrnehme. Anderes gelte nur bei der Wahrnehmung von Selbstverwaltungsaufgaben. Zum maßgeblichen Zeitpunkt des Widerspruchsbescheides als letzter Behördenentscheidung seien die Ausführung und der Vollzug der Baumschutzsatzungen sind Aufgaben im eigenen Wirkungskreis der Kommunen, § 14 Abs. 1 ThürNatG.

In der Sache liege der einzig in Betracht kommende Ausnahme-Fall des § 6 Abs. 1 Nr. 3 BaumSchS nicht vor. Danach kann eine Ausnahmegenehmigung erteilt werden, wenn von dem Baum eine Gefahr für Personen oder Sachen von bedeutendem Wert ausgeht und die Gefahr nicht auf andere Weise mit zumutbaren Aufwand beseitigt werden kann. Dafür sei nämlich eine „echte“ Gefahr nötig, das heißt konkrete Anhaltspunkte für einen Schaden und nicht nur eine abstrakte (dies wird ausgeführt).

§ 123 VwGO-Antrag eines Bäckereiunternehmens auf Untersagung einer Information im Internet, dass an schwerzugänglichen Stellen Mäusekot gefunden wurde

 

OVG Münster B. v. 31.03.2022 -9 B 159/22- NJW 2022, 1897,

VG Düsseldorf B. v. 24.01.2022 -16 L 53/22 :

§ 123 VwGO Eilantrag eines Bäckereiunternehmens, der Antragsgegnerin im Wege einer e. A. zu untersagen, auf der Internetseite „lebensmitteltransparenz.nrw.de“ den sich aus dem Anhörungsschreiben (…) ergebenden Inhalt zu veröffentlichen,

insbesondere den Vermerk: „An schwerzugänglichen Stellen wurde Mäusekot vorgefunden“, hilfsweise die Antragsgegnerin zu verpflichten, den Inhalt nur gemeinsam mit (der …) übermittelten Stellungnahme zu veröffentlichen. Das VG hat den Antrag abgelehnt, die Beschwerde hat Erfolg. Ein Anordnungsgrund liege angesichts der (noch) geplanten Veröffentlichung und deren irreparablen Folgen vor. Nach Auffassung des OVG besteht auch ein Anordnungsanspruch. Die Antragstellerin können ihren öffentlich-rechtlichen Unterlassungsanspruches auf Art.12 Abs. 1 GG stützen, weil ein nicht gerechtfertigter Eingriff in die Berufsfreiheit drohe. Die Voraussetzungen der Ermächtigungsgrundlage für die staatliche Information nach § 40 Ia 1 Nr. 3 Lebensmittel- und Futtermittelgesetzbuch (LFGB) lägen nämlich wohl nicht vor („Die zuständige Behörde informiert die Öffentlichkeit unverzüglich unter Nennung der Bezeichnung des Lebensmittels [….] sowie unter Nennung des Lebensmittel[…]-unternehmens […], wenn der durch Tatsachen […] hinreichend begründete Verdacht besteht, dass […] 3. gegen sonstige Vorschriften im Anwendungsbereich dieses Gesetzes, die dem Schutz der Endverbraucher vor Gesundheitsgefährdungen oder vor Täuschung oder der Einhaltung hygienischer Anforderungen dienen, in nicht nur unerheblichem Ausmaß oder wiederholt verstoßen worden ist und die Verhängung eines Bußgeldes von mindestens dreihundertfünfzig Euro zu erwarten ist oder eine Sanktionierung wegen einer Straftat zu erwarten ist und deswegen gemäß § 41 des Gesetzes über Ordnungswidrigkeiten eine Abgabe an die Staatsanwaltschaft erfolgt ist.“).

Das OVG fordert klassisch eine verfassungskonforme Anwendung der Norm bereits auf Tatbestandsebene: Der Verdacht müsse durch Tatsachen belegt sein, der Verstoß von nicht nur unerheblichem Ausmaß und zusätzlich müsse ein Bußgeld/strafrechtliche Sanktionierung zu erwarten und deswegen eine Abgabe an die Staatsanwaltschaft erfolgt sein. Nach dem konkreten Sachverhalt, der in einer Klausur umfassend ausgewertet werden müsste, sind für das OVG diese Voraussetzungen nicht hinreichend gegeben. Das VG hatte den Sachverhalt noch anders interpretiert.

Polizeirecht „vom Feinsten“: Kosten für Abschleppen eines Fahrzeugs wegen einer Anscheinsgefahr einer Trunkenheitsfahrt

VGH Mannheim, U. v. 24.02.2022 – 1 S 2283/20, NVwZ-RR 2022, 911

Die Polizei hält am Sonntagmorgen um ca. 5 Uhr ein Fahrzeug an der mehrspurigen B 27 in Stuttgart an. Die Polizisten bemerken –so der Sachverhalt nach Beweiserhebung- deutlichen Alkoholgeruch im Fahrzeug, beim später klagenden Fahrer K glasige Augen, zittrige Finger und einen leicht schwankenden Gang. Einen Atemalkoholtest lehnt der K ab. Die Polizei untersagte die Weiterfahrt und ordnet eine Blutalkoholentnahme an. Das Fahrzeug steht verkehrsunsicher auf dem Fahrstreifen. Der Beifahrer, der Bruder des K, weigert sich, es wegzufahren. Auch jemand anderes wollen die Brüder nicht beauftragen. Die Polizei ordnet das Abschleppen an. Die Blutentnahme ca. 30 min später ergibt einen Blutalkoholwert von unter 0,08 o/oo.

Die Klage gegen den später ergangenen Kostenbescheid hat in erster Instanz Erfolg. Der VGH hat die Klage abgewiesen:

Rechtsgrundlage sei § 8 II 1 BWPolG. Danach sind die in den §§ 6 und 7 PolG bezeichneten Personen (Handlungsstörer/Zustandsstörer) zum Ersatz derjenigen Kosten verpflichtet, welche der Polizei durch die unmittelbare Ausführung einer Maßnahme nach § 8 I 1 PolG entstanden sind („Die unmittelbare Ausführung einer Maßnahme durch die Polizei ist nur zulässig, wenn der polizeiliche Zweck durch Maßnahmen gegen die in den §§ 6 und 7 bezeichneten Personen nicht oder nicht rechtzeitig erreicht werden kann“).

Weil sofort gehandelt hätte werden müssen, sei am frühen Sonntagmorgen der Polizeivollzug zuständig gewesen, nicht die an sich zuständige Ortspolizeibehörde.

Der für ein unmittelbares Ausführen erforderliche fiktive Grundverwaltungsakt wäre rechtmäßig gewesen. Eine Maßnahme nach der polizeilichen Generalklausel wäre erforderlich gewesen. Das auf der Fahrbahne stehende Fahrzeug habe eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit dargestellt.

Der Kläger habe als Störer nicht zur Verfügung gestanden (der VGH geht von Zustandsstörereigenschaft nach § 7 BWPolG als Halter und sieht gleichzeitig den K als Fahrer für einen etwaigen Verhaltensstörer nach § 6 I BWPolG, die speziellere (Handlungs-)Verantwortlichkeit als Halter bleibt unerwähnt), weil er aus der maßgeblichen ex-ante-Sicht zumindest eine Ordnungswidrigkeit begangen haben würde, wäre er weitergefahren (wird unter sehr ausführlicher Beweiswürdigung dargestellt).

Ermessensfehlerfrei habe die Polizei das Auto nicht selbst weggefahren, sondern ein Unternehmen beauftragt. Die entsprechende interne Anweisung sei sachgerecht, die Mehrkosten adäquat.

Entgegen dem Wortlaut („Entstehen [….] Kosten, so sind […]) habe die Behörde Ermessen, ob sie einen Störer zum Kostenersatz heranziehe. Regelmäßig sei zwar ein Störer heranzuziehen, in Ausnahmefällen wie bei einem Anscheinsstörer –wie hier- oder bei Gefahrenverdacht gelte jedoch anderes, wenn sich ex post die fehlende Gefahr bzw. die fehlende Verantwortlichkeit für die Verdachtsmomente herausstellen (Für Fälle, in denen die Gefahr durch/mit ein Auto verursacht wird, widerspricht dies m. E. der vorherrschenden Auffassung, die den Kfz-Halter immer für verantwortlich hält, solange er die Verfügungsgewalt nicht verloren hat; auch ansonsten ist eine Anscheinsgefahr eine echte Gefahr, auch soweit es um den Bezug zum Störer geht).

Der VGH geht von intendiertem Ermessen aus, so dass fehlende Ausführungen der Behörde unschädlich seien. Ausführlich wird dargelegt, weshalb sich der Kläger die Annahme seiner Fahruntüchtigkeit habe zurechnen lassen müssen, so dass kein Ausnahmefall vorliege.

Als „Kosten“ im Sinne des § 8 II 1 BWPolG habe die Behörde nicht nur die eigentlichen Unkosten (Rechnung des Abschleppunternehmens über 140 €), sondern auch eine Gebühr für die polizeiliche Tätigkeit vor Ort und eine für den Kostenbescheid selbst festsetzen dürfen „in Anlehnung an § 31 I BWVwVG“ („Für Amtshandlungen nach diesem Gesetz werden Kosten (Gebühren und Auslagen) erhoben.“). M. E. ist für eine rechtmäßige Gebührenfestsetzung eine ausdrückliche gesetzliche Ermächtigung notwendig, weil Kosten nur tatsächlich entstandene sein können. Eine solche enthält aber § 4 II BWLGebG i. V. m der Gebührenverordnung Innenministerium und deren Anlage. Letztere wird vom VGH für die Überprüfung der Gebührenansätze auch herangezogen.

Unzulässige Baunachbarklage gegen Gemeinde, VGH München, B. v. 06.12.2021

 

VGH München, B. v. 06.12.2021 -9 ZB 18.782NVwZ-RR 2022, 209

VG Würzburg, U. v. 22.02.2018 – W 5 K 16.794

Unzulässige Baunachbarklage gegen die Gemeinde

Die Kläger (K) wenden sich als gegen ein Bauvorhaben des Beigeladenen. Ihre Klage richtet sich aber nicht gegen den Freistaat als Rechtsträger der zuständigen Baubehörde (Landratsamt), sondern gegen die Gemeinde. Es gibt keine Baugenehmigung für das Bauvorhaben des Beigeladenen, dieser hat nur eine Bauvorlage im Genehmigungsfreistellungsverfahren für die Errichtung einer Halle eingereicht. Mit Schreiben vom 4. Juli teilt die Beklagte (B) dem Beigeladenen unter Bezugnahme auf Art. 58 BayBO mit, dass für sein Bauvorhaben kein Genehmigungsverfahren durchgeführt werden solle. Sie mache von ihrem Prüfungsrecht keinen Gebrauch und beantrage keine Untersagung nach § 15 I 2 BauGB. Sie übersendet das Schreiben auch an die K. Das Begleitschreiben bezeichnete es als Bescheid und enthält eine Rechtsbehelfsbelehrung. Das Landratsamt Würzburg teilt den K mit Schreiben vom 29.Juli mit, dass das Genehmigungsfreistellungsverfahren zurzeit aus baurechtlicher Sicht nicht ausführbar sei und somit für das Baugrundstück aktuell kein Baurecht bestehe. Am 2. August erheben die Kläger Klage und beantragen, 1.) den Bescheid der B aufzuheben und 2.) die B zu verurteilen, dem Beigeladenen die Baugenehmigung für einen Neubau einer Halle (…) zu versagen. Die Klage sei aufgrund der RMB erforderlich.

VG und VGH halten beide Klageanträge für unzulässig.

Der erste Antrag sei als Anfechtungsklage nicht statthaft, es fehle an einem Verwaltungsakt. Die Erklärung der Gemeinde nach (dem jetzigen) Art. 58 II Nr. 5 BayBO sei kein VA, sondern eine schlichte Verfahrenshandlung (Realakt). Erkläre die Gemeinde, ein Baugenehmigungsverfahren nicht zu verlangen, liege darin nur eines der Tatbestandsmerkmale für eine Genehmigungsfreistellung. Der Bauherr könne nur zu einem (noch) früheren Zeitpunkt mit seinem Bauvorhaben beginnen (vgl. Art. 58 III 5 und 5 BayBO). Es werde nichts bindend festgestellt. Aus der Bezeichnung des Schreibens als Bescheid und der Rechtsbehelfsbelehrung folge nichts Anderes. Daraus könne aus Empfängersicht allenfalls abgeleitet werden, dass der Rechtsweg eröffnet sei. Eine Anfechtung der Freistellungserklärung sei aus Gründen des effektiven Rechtsschutzes nicht erforderlich, weil die K auch ohne die Möglichkeit, die Mitteilung der Gemeinde vom 4. Juli 2016 anfechten zu können, gegenüber dem Vorhaben des Beigeladenen nicht rechtlos gestellt seien. Sie könnten bei der Bauaufsichtsbehörde einen Antrag auf bauaufsichtliches Einschreiten stellen und dann später dann soweit nötig Rechtsweg beschreiten.

Eine Erklärung nach § 15 Abs. 2 Satz 2 BImSchG , die nach der Rechtsprechung des BVerwG einen Verwaltungsakt darstelle, betreffe den anders gelagerten Fall, dass die zuständige Behörde feststelle, dass die geplante Änderung einer Anlage keiner förmlichen immissionsschutzrechtlichen Genehmigung. Auch sei diese Norm gar nicht nachbarschützend.

Eine Umdeutung in ein Verpflichtungsbegehren auf bauaufsichtliches Einschreiten scheide aus, weil ein solches gegen den Träger der Bauaufsichtsbehörde zu richten wäre.

Dem 2. Klageantrag fehle das Rechtsschutzbedürfnis, weil die K keine Verbesserung ihrer Rechtslage erreichen könnten. Zulässigkeit unterstellt, würde sich die Klage auch gegen den falschen Beklagten richten.

Die K müssten die Kosten voll tragen. Von § 155 Abs. 4 VwGO sei nach Ausübung gerichtlichen Ermessens kein Gebrauch zu machen, obwohl eine vorprozessual erteilte falsche Rechtsbehelfsbelehrung ein Beteiligtenverschulden im Sinne dieser Vorschrift sein könne. Die K hätten allerdings das KIageverfahren auch nach entsprechenden gerichtlichen Hinweisen fortgesetzt.

Fahrerlaubnisrecht: Entziehung der Fahrerlaubnis aufgrund Eignungszweifel nach einer Straftat im Straßenverkehr – VGH München, B. v. 28.10.2021

VGH München, B. v. 28.10.2021 – 11 CS 21.2148NJW 2022, 413

VG Augsburg, B. v. 23.07.2021 – Au 7 S 21.1407

Fahrerlaubnisrecht: Entziehung der Fahrerlaubnis aufgrund Eignungszweifel nach einer Straftat im Straßenverkehr.

Erfolgloser § 80 V- VwGO Antrag gegen eine für sofortvollziehbar erklärte Entziehung der Fahrerlaubnis sowie die Einziehung des Führerscheins. Vorangegangen war eine Aufforderung zur Abgabe eines medizinisch-psychologischen Gutachtens mit der Besonderheit, dass die Fahruntauglichkeit nicht aufgrund einer Krankheit oder Drogen fraglich war, sondern geklärt werden sollte ob der Antragsteller ungeachtet einer erheblichen Straftat im Zusammenhang mit dem Straßenverkehr nicht auch künftig wiederholt gegen straf- und verkehrsrechtliche Bestimmungen verstoßen werde. Anlass war ein Strafbefehl gegen den Antragsteller wegen versuchter Nötigung in Tatmehrheit mit Beleidigung (massives Drängeln mit Lichthupe und Hupen, bei der nachfolgenden Verkehrskontrolle dann Duzen der Polizeibeamten). Nach § 11 III 1 Nr. 5 FeV kann die Beibringung eines Gutachtens zur Klärung von Eignungszweifeln für die Zwecke nach § 11 I und II FeV (Feststellung der Eignung) bei einer erheblichen Straftat, die im Zusammenhang mit dem Straßenverkehr steht, oder bei Straftaten, die im Zusammenhang mit dem Straßenverkehr stehen, angeordnet werden.

VG und VGH folgen der Rechtsprechung, wonach bei Ausbleiben des geforderten Gutachtens nach § 11 VIII 1 FeV auf die Nichteignung geschlossen werden darf, wenn die Anordnung der Begutachtung formell und materiell rechtmäßig, insbesondere anlassbezogen und verhältnismäßig ist. Sie sehen keine formellen Defizite der Aufforderung, obwohl dort von „Nötigung“ anstelle „versuchter Nötigung“ die Rede ist. Da der Schluss in § 11 VIII 1 FeV trotz der Formulierung kein Ermessen einräume, sondern den Eignungsmangel bei grundloser Verweigerung einer Begutachtung begründe, habe die Behörde auch richtig mitgeteilt, dass sie von einem Fehlen ausgehen „werde“. Die Gutachtensfrage sei richtig angesichts § 2 IV 1 StVG („Geeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen ist, wer die notwendigen körperlichen und geistigen Anforderungen erfüllt und nicht erheblich oder nicht wiederholt gegen verkehrsrechtliche Vorschriften oder gegen Strafgesetze verstoßen hat.“). Die Anlassstraftat sei gravierend. Die Behörde habe auf den Nötigungsversuch abgestellt, nicht auf die nachfolgende Beleidigung. Auch das Ermessen sei richtig ausgeübt, obwohl die Behörde nicht ausdrücklich etwas dazu ausgeführt hat, warum sie bereits nach einem Verkehrsverstoß und damit außerhalb des Punktesystems von der Ermächtigung des § 11 III 1 Nr. 5 FeV Gebrauch gemacht habe.

Das VG hat zudem zusätzlich eine Interessenabwägung unabhängig von der Inzidentüberprüfung vorgenommen und § 80 III VwGO geprüft.

Auslegung einer Bescheidformulierung als bestimmend und nicht als bloßer Rechtshinweis: VG Berlin, B. v. 21.10.2021

 

VG Berlin, B. v. 21.10.2021 – VG 14 L 453/21

§ 80 V-VwGO Antrag gegen eine Untersagungsverfügung des Ordnungsamtes, Lebensmittel in den Verkehr zu bringen.

Auslegung einer Bescheidformulierung als bestimmend und nicht als bloßer Rechtshinweis; Anhörungsmangel, Bestimmtheitsgebot; Rechtmäßigkeit der Zwangsgeldandrohung.

Der Antragsteller stellt in einem von der Straße aus allgemein zugänglichen Windfang Warentische zur Lebensmittelumverteilung bereit. Dorthin liefert primär ein lokaler Biomarkt aussortierte Lebensmitteln an. Deren Verteilung wird über WhatsApp- und telegram-Gruppen organisiert. Auch stellen dort weitere Personen Lebensmittel unkontrolliert und zur freien Mitnahme für jedermann hin. Das Bezirksamt untersagt nach Feststellung ungekühlter, verdorbener und unsauber aufbewahrter bzw. unverpackter Lebensmittel auf den Warentischen die weitere Lebensmittelumverteilung unter Anordnung der sofortigen Vollziehung. Weiter formuliert es, dass die Wiederaufnahme des Inverkehrbringens nach Schaffung der hygienischen Voraussetzungen und nach vorheriger Zustimmung des Ordnungsamtes erfolge. Die hygienischen Voraussetzungen würden nicht eingehalten. Hiergegen wandte sich der Antragsteller mit seinem Eilantrag und macht geltend, er sei kein „Lebensmittelunternehmer“ im Sinne der einschlägigen EU-VO und daher für die Lebensmittelumverteilung nicht verantwortlich.

Das VG hält den Antrag für zulässig. Doppelte Rechtshängigkeit bzw. entgegenstehende Rechtskraft bestehe nicht, weil der rechtskräftige vorangegangene Beschluss den dortigen als unzulässig abgewiesen hatte.

Es handele sich jetzt um einen § 80 V- VwGO Antrag, auch soweit es dieser Wiederaufnahme-Regelung betreffe. Darin sei ein Verwaltungsakt zu sehen (Auslegung: im Tenorteil enthalten, Formulierung von „Maßnahmen“, Schaffung eines Verbotes mit Erlaubnisvorbehalt, welche so die EU-VO Nr. 852/2004 nicht vorsehe).

Die Verfügung ist nach Auffassung des VG formell rechtwidrig mangels vorangegangener Anhörung. Nur ausnahmsweise erscheine es angesichts der zeitlich nahen Heilungsmöglichkeit nach § 45 I Nr. 3 VwVfG noch vertretbar, nicht alleine deshalb die aufschiebende Wirkung wiederherzustellen.

Die Untersagungsverfügung selbst sei o. K. Ermächtigungsgrundlage sei Art. 138 I b VO (EU) 2017/625. Auch der Antragsteller als altruistische Privatperson ein Unternehmer im Sinne dieser Norm, weil er eine mit dem Vertrieb von Lebensmitteln zusammenhängende Tätigkeit ausübe. Er verstoße fortwährend gegen Art. 6 I und II VO (EG) 852/2004 (Registrierungspflicht). Abzustellen sei insoweit auf den Zeitpunkt bis heute, weil es sich um einen Dauerverwaltungsakt handele. Auch verstoße er gegen Art. 4 II der Verordnung (Hygienevorschriften als solche), wie im Einzelnen dargestellt wird.

Auf der Rechtsfolgenseite liege ein intendiertes Ermessen hinsichtlich des Obs einer Maßnahme (Entschließungsermessen) vor. Das gewählte Mittel eines Verbots des Inverkehrbringens von Waren sei verhältnismäßig.

Es bestehe auch ein besonderes öffentliches Vollziehungsinteresse. Hinsichtlich der angenommenen weiteren Verfügung fehle es an hinreichender Bestimmtheit, § 37 I VwVfG. Zum einen sei unklar, ob neben den hygienischen Voraussetzungen wirklich konstitutiv eine Zustimmung des Amtes erforderlich sei solle. Aber auch der Begriff der „hygienischen Voraussetzungen“ sei nicht hinreichend bestimmt. Insoweit liege auch ein Begründungsmangel nach § 39 I VwVfG vor. Es werde nicht klar, weshalb die Behörde von einem im Recht nicht vorgesehenen Zustimmungserfordernisses ausgehe. Da dies gleichzeitig einen Ermessensausfall bedeute, könne dieser Mangel auch nicht geheilt werden.