Prozessmaximen

Prozessmaximen

Prozessmaximen (Verfahrensgrundsätze) als Argumentationshilfen

Dispositionsmaxime Klagerücknahmefiktion

Amtsermittlung (statt Beibringungsgrundsatz)

Mündlichkeitsprinzip und Öffentlichkeitsprinzip)

 

Die Prozessmaximen (Verfahrensgrundsätze) dienen manchmal als Argumentationshilfen für prozessuale Fragen:

1. Dispositionsmaxime

Gegenteil: Offizialmaxime

Herrschaft der Prozessbeteiligten über den Streitgegenstand:

‑ Antragserfordernis

‑ Kläger bestimmt den Streitgegenstand

‑ Bindung des Gerichts an das Klagebegehren, § 88 VwGO

‑ Befugnis des Klägers zur Klageänderung, § 91 VwGO

‑ Verfahrensbeendigung durch die Beteiligten: Rücknahme, Vergleich, Erledigterklärung

BVerwG, Beschl. v. 13. 1. 2012 – 9 B 56/11 NVwZ 2012, 375

  • Maßgebend für den Umfang des Klagebegehrens ist gem. § 88 VwGO nicht die Fassung des Klageantrages, sondern das wirkliche Rechtsschutzziel, wie es sich aus dem gesamten Parteivorbringen, insbesondere der Klagebegründung, erschließt .
  • Unbeschadet der gesteigerten Bedeutung, die der Fassung des Klageantrages eines anwaltlich vertretenen Kl. zukommt, hat das Gericht auch im Anwaltsprozess dem wirklichen Klageziel Rechnung zu tragen, sofern dieses eindeutig von der Antragsfassung abweicht.

Klagerücknahmefiktion des § 92 II VwGO:

  • keine Ausnahme von der Dispositionsmaxime.

Setzt nämlich voraus (vgl. BVerwG NVwZ 2000, 1297), dass zum Zeitpunkt der Betreibensaufforderung sachlich begründete Anhaltspunkte für einen Wegfall des Rechtsschutzinteresses bestehen (nicht jedes kommentarlose Verstreichen-Lassen einer Betreibensaufforderung)

Ermessensergänzung nach § 114 S.2 VwGO.

in der Sache wohl Einschränkung der Dispositionsmaxime (Soweit die Ermessensergänzung rechtlich geht, muss der Kläger für erledigt erklären).

Beispiel für eine gerichtliche Heranziehung der Dispositionsbefugnis:

Kostennorm bei einer Klagerücknahme als Folge eines außergerichtlichen Vergleichs mit Kostentragungsvereinbarung: OVG Berlin-Brandenburg, B. v. 8.12.2020 -OVG 6 A 2/20– NVwZ-RR 2021, 176: Statt des § 155 II VwGO gilt § 160 VwGO entsprechend, weil eine strenge Beachtung des § 155 II VwGO der Dispositionsbefugnis nicht gerecht werden würde (weil die Beteiligten auf eine externe Kostenauseinandersetzung verwiesen würden) und die Interessenlage der einer übereinstimmenden Erledigungserklärung entspricht.

2. Amtsermittlung (statt Beibringungsgrundsatz)

Amtsermittlungsprinzip =keine Schlüssigkeitsprüfung, § 86 I 2 VwGO: an Vorbringen nicht gebunden, kein Versäumnisurteil (aber 102 II VwGO.

§ 86 Abs. 1 VwGO

‑ Sachaufklärung durch:

‑ Vorbringen der Beteiligten

‑ Beiziehung der Behördenakten, § 99 Abs. 1 Satz 1 VwGO

‑ Beweisaufnahme, §§ 96-98 VwGO

‑ Einschränkung der Untersuchungsmaxime

‑ Zumutbarkeit

‑ Mitwirkungsobliegenheit der Beteiligten, § 86 Abs. 1 Satz 1 VwGO

‑ Präklusion nach § 87 b VwGO.

‑ Einstweilige Anordnung: Glaubhaftmachung der Tatsachen

§ 113 Abs. 2 Satz 2, Abs. 3 VwGO

Einschränkung der Amtsermittlung durch den Grundsatz, sich nicht ungefragt auf Fehlersuche zu begeben? Nein:

„behutsamer Umgang mit der Amtsermittlung im Interesse des Klägers“ (keine Phyrrhusssiege produzieren, vgl. BVerwGE 116, 188: Mit der Mahnung des BVerwG solle (zwar) nicht die rechtliche Geltung des Amtsermittlungsgrundsatzes in § 86 I VwGO in Frage gestellt, aber darauf hingewiesen werden, dass eine sachgerechte Handhabung dieses Grundsatzes unter dem Gesichtspunkt der Gewaltenteilung und der Prozessökonomie zu erfolgen habe (Fall: In einem Normenkontrollverfahren gegen eine Marktsatzung waren vom OVG sämtliche Einwände der Antragsstellerin zurückgewiesen worden, der es u. a. darum, ging gegen das Verbot vorzugehen, Werbezettel zu verteilen und das Gebot, den Stand täglich abbauen zu müssen; Das OVG hat die Satzung wegen Kalkulationsfehlern für nichtig erklärt.). M. E. betrifft dies primär die Dispositionsmaxime.

Klarstellung durch BVerwG, B. v. 24.11.2021 -9 B 5/21- NVwZ 2022, 493:

Einen den Amtsermittlungsgrundsatz einschränkenden Rechtssatz, nach dem Gesichtspunkte, die für die Rechtmäßigkeit des betreffenden Verwaltungshandelns von Bedeutung sind, nur dann berücksichtigt werden dürfen, wenn sich die Beteiligten darauf berufen, gibt es ebenso wenig wie einen über eine Maxime richterlichen Handelns hinausgehenden Rechtssatz, der eine „ungefragte“ Fehlersuche. § 86 I 1 Hs. 1 VwGO verpflichte das Gericht, den Sachverhalt von Amts wegen aufzuklären, soweit er nach seiner Rechtsauffassung entscheidungserheblich ist.

Auch soweit der Freibeweis möglich ist (insbesondere bei Zulässigkeitsvoraussetzungen, z. B. eidesstattliche Versicherung, einen Schriftsatz rechtzeitig bei Gericht eingeworfen zu haben) sind die Anforderungen an die Aufklärungspflicht (§ 86 I VwGO) und die richterliche Überzeugung gleich (BVerwG, B. v. 24.07.2008 -9 B 41/07- NJW 2008, 3588):

Will also Gericht der eV (hier einer Rechtsanwältin, die vorträgt, den Schriftsatz selbst in den Gerichtsbriefkasten geworfen zu haben) nicht glauben, muss es sie als Zeugin anhören und gegebenenfalls den Justizwachtmeister (der dienstlich erklärt hat, dass der Schriftsatz nicht im Gerichtsbriefkasten gelegen hat).

Obersatz für die Überzeugungsbildung (§ 108 VwGO):

Erforderlich ist ein für das praktische Leben brauchbarer Grad von Gewissheit, der Zweifeln Schweigen gebietet, ohne diese völlig auszuschließen (so BVerwG, U. v. 23.09.2020 -1 C 36/19 – NVwZ 2021, 494, Rdnr. 20 unter Bezugnahme auf BVerwGE 71, 180, 181).

§ 86 II VwGO („Ein in der mündlichen Verhandlung gestellter Beweisantrag kann nur durch einen Gerichtsbeschluß, der zu begründen ist, abgelehnt werden.“):

  • Ablehnungsgründe § 244 III, IV StPO analog.
  • Abgrenzung zur bloßen Beweisermittlungs-/Ausforschungsbeweisanträgen, die erst der Vorbereitung des eigentlichen Beweisantrages dienen bzw. neuen Sachverhalt liefern sollen:

Dazu BVerwG, B. v. 26.6.2017 – 6 B 54/16– mit Besprechung Behm NVwZ 2017, 1389 und Schübel-Pfister JUS 2018, 441,443) „Ein Ausforschungs- oder Beweisermittlungsantrag, der als unzulässig abgelehnt werden kann, liegt nur in Bezug auf Tatsachenbehauptungen vor, für deren Wahrheitsgehalt nicht wenigstens eine gewisse Wahrscheinlichkeit spricht, die mit anderen Worten ohne greifbare Anhaltspunkte willkürlich „aus der Luft gegriffen“, „ins Blaue hinein“, also „erkennbar ohne jede tatsächliche Grundlage“ erhoben worden sind (…..). Eine Behauptung kann nicht schon dann als unerheblich behandelt werden, wenn sie nicht auf dem Wissen des Behauptenden, sondern auf einer Vermutung beruht. Denn ein Bet. wird häufig von einer entscheidungserheblichen Tatsache, die sich ihm als möglich oder wahrscheinlich darstellt, keine genaue Kenntnis haben. Wenn die Gegenseite der Vermutung aber mit einer plausiblen Erklärung entgegentritt, darf diese nicht einfach ignoriert werden. Den Bet. ist zuzumuten, sich hiermit auseinanderzusetzen, etwa greifbare Anhaltspunkte zu benennen, die für seine Vermutung oder gegen die Erklärung der Gegenseite sprechen. Einer Behauptung, die ohne jede tatsächliche Grundlage erhoben worden ist und ohne ein Eingehen auf sie entkräftende Gegenbehauptungen aufrechterhalten wird, braucht das Gericht nicht nachzugehen (…).

3. Mündlichkeitsprinzip: § 101 Abs. 1 VwGO

‑ Ausnahmen:

  • § 101 Abs. 2 VwGO: Einverständnis der Beteiligten
  • § 84 Abs. 1 VwGO: Gerichtsbescheid
  • § 101 Abs. 3 VwGO: Beschlüsse

Gerichtsöffentlichkeit (§ 55 VwGO i. V. m. § 169 I 1 GVG)

Eine Verhandlung ist öffentlich, wenn sie in Räumen stattfindet, die während der Dauer der Verhandlung grundsätzlich jedermann zugänglich sind (BVerwG, B. v. 15.03.2012 – 4 B 11.12 m. weit. Nachw.).

VG Wiesbaden, B. v. 20.01.2010 -6 K 1063/09- NJW 2010, 1220 Öffentlichkeit verletzt bei Videoüberwachung des Eingangsbereichs (Verstoß gegen R. auf informationelle Selbstbestimmung) unter Bezugnahme auf BVerfG NJW 2009, 3293).

Dagegen nicht bei Einlasskontrolle (und schon gar kein Verfahrensfehler ohne Rüge in der mündlichen Verhandlung) OVG Berlin-Brandenburg, B. v. 26.03.2010 -3 N 33/10-, NJW 2010,1620.

Andererseits stellt die Kontaktdatenerfassung zur Bekämpfung der Corona-Pandemie für Besucher einer Gerichtsverhandlung im Interesse des Gesundheitsschutzes eine hinzunehmende Beeinträchtigung dar, die den Zugang zum Gerichtssaal für die jeweils Betroffenen obendrein allenfalls psychisch, nicht aber physisch hemmt und unzulässigen Verweigerung des Zutritts gleichsteht (so OVG Lüneburg, B. v. 5.11.2020 -9 LA 115/20- NJW 2021, 650 unter Bezugnahme auf im Anschluss an OVG Berlin-Brandenburg, B. v. 27.5.2020 – OVG 11 S 43/20).

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